Mit 50 begann das Leben neu
von Jeremy Reynalds, Reporter bei ASSIST News Service ANS, 24. September 2007
Übersetzung Birgit Barandica
“Die ganze Zeit über hatte ich gewusst, dass Gott da war, aber ich hatte einfach
nicht mehr an Ihn gedacht, wie das bei so vielen Leuten ist. Die Amnesie hatte
beinahe alles im Griff, aber sie konnte nicht Gott aus meinem Herzen reißen!"”
auf der anderen Straßenseite. “Ich ging ich nervös darauf zu und dann sah ich, dass der Automat leer war,” berichtet er. “Ich fluchte. Dann durchsuchte ich meine Hemd- und Hosentaschen und die Briefbörse. Ich fand nichts, womit ich mich hätte ausweisen können. Alles, was ich hatte, waren drei Ein-Dollar-Scheine und ein paar Münzen Wechselgeld. Ich schaute die Straße hinauf und hinunter und entdeckte einen weiteren Zeitungsautomaten. Da waren Zeitungen drin und ich las: "Albuquerque, New Mexico, 18. Juli 1996".”
Harold Eansor
ALBUQUERQUE, N.M. (ANS) - Stell dir vor, du wachst in einem Bus auf und weißt nicht, was du da tust und wer du bist. Ich denke, sogar für den mutigsten Menschen ist dies ein Angst einflößender Gedanke.
Aber genau das erlebte Harold Eansor am 18. Juli 1996.
Er erzählt: “Ich hatte keine körperlichen Schmerzen, aber mir brummte der Kopf, alles war vernebelt und undeutlich. Wo war ich bloß? Mehr noch - wer war ich? Wer, was, wo, wann und ganz besonders: wieso?”
Harold stieg aus dem Bus und bemerkte einen Zeitungsautomaten
Harold erzählt, dass er sich daran erinnert, wie er sich fragte: “Wieso bin ich außerhalb meines Landes in Mexiko? Moment mal, dies ist nicht Mexiko. Schau noch mal genau hin: dies ist New Mexico (amerikanischer Bundesstaat) - den kenn ich. Nein, also, den kenn ich doch nicht... Was ist New Mexico? Spreche ich zu mir selbst? Ich bin total durcheinander, aber ich habe keine Angst. Moment mal, wem erzähl ich da was.... ich bin total in Panik!!!”
Harold suchte nach einer Zigarette und zog eine aus dem Päckchen in seiner Hemdtasche. Weil er aber kein Feuer fand, fragte er einen Fremden Passanten auf der Straße, der ihn im Gegenzug um eine Zigarette bat. Die beiden Männer rauchten ihre Zigaretten gemeinsam und Harold stellte ihm viele Fragen. Er war sich bewusst, dass mit ihm etwas nicht stimmte und so sagte er dem Fremden, dass er wohl zur Polizei müsste.
Der Fremde riet von der Polizei ab und schlug vor, dass Harold in die Universitätsklinik gehen sollte. Der Mann zeigte ihm die richtige Bushaltestelle und Harold bat den Fahrer, ihm Bescheid zu sagen, wann er aussteigen musste.
In der Aufnahme der Klinik versuchte er sein Problem zu schildern. “Es wurde zu einem riesigen Durcheinander von Ärzten, Schwestern, Polizei, Sicherheitspersonal des Krankenhauses und ich glaube auch ein paar Neugierigen,” berichtet er. “Ich war der Mittelpunkt sämtlicher Aufmerksamkeit, aber ich bekam den sicheren Eindruck, dass niemand mir so richtig glaubte. Ich konnte es ihnen nicht verübeln - ich glaubte es ja nicht einmal selbst!”
Eine Millionen Fragen
Dann wurden Harold als nächstes “eine Millionen Fragen” gestellt, die er nicht beantworten konnte. Er fügt hinzu: “Es kam mir wie eine Million vor. Dann kamen weitere Untersuchungen, Blutabnahme, noch mehr Fragen. Es kam mir vor, wie lauter Wiederholungen, aber man sagte mir, es sei ein Lehrkrankenhaus.”
Äußerlich war Harold ruhig, wie er erzählt, ruhig, cool und gefasst. Innerlich war es jedoch etwas ganz anderes: “Ich wollte weder Gereiztheit noch Ungeduld zeigen, aus Angst, man würde mich in die Psychiatrie einweisen. Diese Einrichtung befand sich im hinteren Gebäudeteil, wie man mir sagte.”
“Dann unterzog man mich einer Kernspinntomographie und weiterem Schüren und Nachhaken,” fährt Harold fort. Die Ärzte meinten, dass sie kein physisches Trauma finden könnten, um seinen Erinnerungsverlust zu erklären. Harold erfuhr, dass eventuell Alkoholmissbrauch oder -vergiftung die Amnesie ausgelöst haben könnte.
Die Bluttests ergaben zwar keinen Alkoholbefund, aber Harolds Körper und seine Kleidung rochen stark nach Alkohol. Er einnert sich, wie er mit Mengen an Vitamin-B-Komplexen vollgepumpt wurde, um die Reaktionen auf den Alkoholentzug zu verringern.
Als Harold endlich in einen Spiegel schaute, erschrak er bei seinem Anblick. “Ich kannte den Kerl nicht, der mir da entgegenstarrte. Ich wollte ihn nicht kennen. Aber ich wusste auch nicht, was ich wollte. Mann, tat mir der Kopf weh... Ich hätte einen Drink gebrauchen können...”
Harold schaute sein Spiegelbild etwas genauer an und sah, dass er groß und mager war und ein großes blaues Auge und eine kleine Wunde über dem Nasenbein hatte. Er konnte sich das nicht erklären. “Hatte ich jemanden verletzt? Warum wurde ich zusammengeschlagen? Wurde ich von der Polizei gesucht? Der Mann im Spiegel sieht finster aus. Aber Moment mal, das soll ja ich sein, da im Spiegel! Mach dich doch nicht lächerlich... das bist DU, wer immer du auch bist. Nuschel ich oder spreche ich in meinem Kopf? Hör auf damit, du kommst ganz bestimmt in die Psychiatrie.”
Harold fragte sich, wem er trauen sollte, falls er überhaupt jemandem trauen könnte. Während er sich so seine Gedanken machte, kamen immer wieder Ärzte und anderes Krankenhauspersonal in sein Zimmer - in Gruppen von vier und einmal sogar von sechs Leuten. Er berichtet von den vielen Fragen, die sie ihm stellten und die er nicht beantworten konnte.
Sie fragten ihn nach dem Namen des Präsidenten, ob er wüsse, wie man einen Hamburger macht, sie forderten ihn auf, in Siebenerschritten rückwärts zu zählen. Während er äußerlich ruhig blieb, schrie er jedoch in seinem Verstand auf: “Stop! Haltet den Mund und lasst mich in Ruhe! Lasst mich doch nachdenken! Helft mir, bringt mich wieder in Ordnung!”
Selbstfindung
Eine kurze Zeit später kam eine Frau in Harolds Zimmer, die sich als seine ältere Schwester vorstellte. “Sie war es, die mir sagte, dass mein Name Harold sei. Ich sagte ihr, dass es mir leid täte, sie nicht zu kennen (und mein Verstand sagte mir: ‘und ich weiß ganz genau, dass ich diesen Harold-Typen nicht kenne!’). Wir sprachen ein Weile und sie hatte mich fast davon überzeugt, dass ich tatsächlich Harold sei. Diese einseitige Unterhaltung ließ mich unheimlich fühlen. Ich sollte irgendwas mit dem Leben dieses Harold zu tun haben, aber es fühlte sich nicht richtig an und klang auch nicht so.”
Fotos überzeugten Harold schließlich doch davon, dass er tatsächlich derjenige war, von dem seine Schwester behauptete, dass er es sei. “Meine Schwester zeigte mir Liebe und Anteilnahme, aber ich fühlte keine Erleichterung, keine Liebe, keine Verbindung,” erzählt er. Ich traute mich nicht, ihr das zu sagen oder sie es fühlen zu lassen. Ich lächelte und meinte, alles würde ok werden. Ich sagte ihr, dass meine Erinnerung ein ganz klein wenig zurückkommen würde. Ich log. Ich brauchte jegliche Information über mich, auch wenn es merkwürdig klang, unglaubwürdig oder sogar falsch.”
Harold erfuhr, dass er 50 Jahre alt war, dass er selten ohne eine Flasche Bier in der Hand gesehen wurde und dass er wie ein Schlot rauchte. Seine Schwester meinte, er sei ein funktionaler Alkoholiker, der einen Job nie länger als zwei Jahre inne hatte und er hätte drei Wochen vor seinem Gedächtnisverlust seinen letzten Job verloren. Seine Zimmergenossen wollten ihn nicht mehr zurück haben, denn er hätte schon seit Langem keine Miete mehr gezahlt. Seine Schwester konnte ihm auch nicht helfen, da sie gerade mitten im Umzug in ein kleineres Haus steckte.
“Man sagte mir, dass ich eigentlich ein ganz netter Typ sei, der sein letztes Hemd für jemanden in Not geben würde,’ fährt Harold fort. “Mein Verstand raste: ‘Wer ist dieser Kerl? Es fühlt sich nicht nach mir an.’ Ich brauche wirklich einen Drink und ich sterbe für eine Zigarette. Ich will meiner Schwester glauben, aber ich kenne sie ganz einfach nicht...”
Das Krankenhaus entließ Harold und sorgte für weitere ambulante Behandlungen in der Psychiatrie. Es wurde ebenfalls für eine Unterkunft im Männerheim "Guter Hirte" für ihn gesorgt. Es war eine trübe Woche gewesen, erzählt Harold.
“Meine Schwester kam regelmäßig, um mit mir zu Mittag zu essen. Sie versuchte meine Erinnerung in Schwung zu bringen," berichtet Harold. “Ich sagte ihr, dass einige Dinge anfangen würden, mir bekannt vorzukommen, aber das stimmte nicht. Vielleicht hätte ich ihr keine falschen Hoffnungen machen sollen, aber es schien, als wären diese Versicherungen für sie wichtiger, als für mich. Meine Untergangsstimmung war zermürbend. Ich lechzte nach einem Drink, aber ich konnte es mir nicht leisten und es hätte mich ganz sicher aus dem "Guten Hirten" hinausbefördert. Meine Schwester half mir jedoch, mich mit Zigaretten zu beliefern. Ich rauchte und nahm Aspirin wegen der Wahnsinnskopfschmerzen..”
Nach einer Woche kam sein Aufenthalt im "Guten Hirten" zum geplanten Ende, aber die Mitarbeiter sorgten für einen einmonatigen Aufenthalt im "Joy Junction" (~Anschluss zur Freude). Diese Aussicht machte Harold jedoch nervös.
“Ich hatte beunruhigende Geschichten über Joy Junction gehört,” erzählt er. “Ich hatte das Gefühl, als würde ich vom Regen in die Traufe geraten. Wieder bekam ich Angst und war gereizt. Mein Verstand machte Überstunden! ‘Vertraue niemandem mehr! Teile dich niemandem mit! Zeige niemandem deine Zweifel oder Ängste! Mach dich selbst schlau!’ Und mein Verlangen nach Alkohol verschwand nicht.”
Joy Junction
Als er in Joy Junction ankam, wurde Harold mit den Worten begrüßt: “Wie geht es dir? Bist du hungrig? Komm, iss was und dann helfen wir dir, dich einzurichten!”
Nach dem Essen wurde seine Anmeldung “mit freundlicher Anteilnahme und nur einem Minimum an persönlichen Fragen” abgewickelt. “Man gab mir Sicherheit und ließ mich ehrlich willkommen fühlen. Diese Atmosphäre ließ den negativen Eindruck, den man mir vermittelt hatte, sich als falsch erweisen. Allerdings warnte mein Verstand mich: ‘Vertraue niemandem! Teil dich nicht mit und sei nicht verletzbar. Behalte die Verantwortung, bleib ruhig und cool. Behalte die Kontrolle.”
Während er sich in Joy Junction einrichtete, begann Harold Fragen zu stellen: “Wer war dieser Harold und wo war er? Wann kommt er zurück?” Es war ein Gefühl “wie beim Einhüten und das Warten auf die Rückkehr der Hausbesitzer,” sagt Harold. “Es gab keine Notfallanweisungen. Was sollte Harold tun? Wo war Harold? Ich fühlte mich nicht wie Harold.”
Harold erzählt von den Besuchen bei einigen seiner früheren Arbeitsstellen, um zu sehen, ob nicht irgendwo ein Glöckchen bimmelte und seine Erinnerung angekurbelt wurde. Stundenlang fuhr er im Bus durch Albuquerque, in der Hoffnung, etwas Vertrautes zu sehen.
Er ging ebenfalls die Bücherei, in der es, wie er sich jetzt noch erinnerte, elf Bücher über Amnesie gab. “Ich verschlang sie regelrecht und erfuhr wenig,” erzählt er. “Die Kopfschmerzen verschlimmerten sich.”
Mittlerweile ging Harold auch in den Gottesdienst, während er im Joy Junction lebte und eines Tages sagte ein Gastprediger den Anwesenden, dass Gott sie aus einem bestimmten Grund nach Joy Junction geführt habe und dass es ihre Verantwortung sei, diesen Grund herauszufinden.
Harold findet Jesus
“Das hab ich zwar gehört, aber ich hab nicht richtig hingehört,” gibt Harold zu. “Der Prediger hat allerdings in der darauffolgenden Woche fast genau dasselbe gepredigt und da hab ich hingehört. Diesmal hörte ich, was er sagte, mit meinem Herzen.”
Harold erzählt, dass ihm Gedanken gekommen seien wie “Blitze. Ich kenne Gott und vertraue Ihm. Ich kenne Jesus und habe Ihm immer vertraut. Ich weiß nicht, woher ich das weiß, aber ich weiß es. In meinem Kopf schrie ich: ‘Warum hat es zwei Wochen gedauert, mich an Gott zu erinnern? Jetzt habe ich jemanden, an den ich mich wenden und dem ich vertrauen kann.”
Und weiter erzählt Harold: “Die ganze Zeit über hatte ich gewusst, dass Gott da war, aber ich hatte einfach nicht mehr an Ihn gedacht, wie das bei so vielen Leuten ist. Die Amnesie hatte beinahe alles im Griff, aber sie konnte nicht Gott aus meinem Herzen reißen!”
Er begann täglich zu beten und Zeit mit dem Herrn zu verbringen und bald bemerkte er eine große Veränderung in seinem Leben. “Ich war immer seltener nervös und gereizt, ich wurde ruhiger und behielt tatsächlich die Kontrolle. Meine Kopfschmerzen wurden in ihrer Intensität imemr weniger und meine Lebensaussichten verbesserten sich. Ich hörte auf, wegen der Suche nach meiner Vergangenheit bis an meine Grenzen zu gehen und fing an, mich auf die Gegenwart zu konzentrieren.”
Harold beendete erfolgreich das Programm von Joy Junction "Gewinne dein Leben zurück" und wurde im Januar 1998 Mitarbeiter bei Joy Junction. Seitdem hat er in verschiedenen Arbeitsbereichen mitgearbeitet und ist jetzt der Vorgesetzte des Sicherheitsdienstes.
“Ich kann mir keine andere Organisation vorstellen, für die ich lieber arbeiten würde,” sagt Harold.
Er ist weiterhin fest im Herrn gegründet und bittet Ihn in jedem Aspekt seines Lebens um Hilfe. Vor zwei Jahren bat Harold Gott, ihm zu helfen, das Rauchen aufzugeben und mit Gottes Hilfe raucht er jetzt nicht mehr und trinkt auch keinen Alkohol.
Er fügt hinzu: “In elf Jahren habe ich 50% Körpergewicht zugelegt - von 65 kg auf 100 kg! Mein Glaube, meine Liebe und mein Vertrauen in den Herrn sind weit über das Erklärbare hinaus gewachsen. Es ist jeden Tag ein neuer Segen für mich, ein kleiner Teil von Joy Junction zu sein. Außer ein paar gelegentlichen Allergieschüben existieren meine Kopfschmerzen praktisch überhaupt nicht mehr. Das Leben ist einfach fantastisch!”
Danke Harold. Wir sind mit dir als Teil unserer Joy Junction Familie wirklich gesegnet!
Jeremy Reynalds ist freischaffender Autor und Gründer und Leiter von Joy Junction, dem größten Obdachlosenheim in New Mexico: http://www.joyjunction.org . Sein neuestes Buch hat den Titel "Homeless in the City: A Call to Service" ("Obdachlos in der Stadt: Ein Aufruf zum Dienst"). Informationen zu diesem Buch gibt es hier: http://www.HomelessBook.com