Aufbruch zum Nächsten, Teil 1
(Lukas 10,25-37)

von Bruni Wolters, Vineyard-Harburg, April 2006


"Der Nächste, bitte!"

Ich sitze beim Arzt im Wartezimmer, eine freundliche Sprechstundenhilfe macht die Tür auf und sagt: "Der Nächste, bitte!" Endlich bin ich dran! Ich freue mich, denn ich habe lange gewartet. Es ist schön, der Nächste zu sein.

Dieses Beispiel kann ich bald nicht mehr bringen. In Behörden müssen wir eine Nummer ziehen. Da heißt es dann nicht mehr: "Der Nächste, bitte"...

Menschen werden zu Nummern und Sprechstundenhilfen zu Automaten. Gut, dass es bei Gott anders ist! Bei Ihm sind und bleiben wir einmalige und unverwechselbare Persönlichkeiten. Jeder einzelne ist wichtig, jedem gilt Seine Aufmerksamkeit. Wir wollen uns heute auch mit dem Nächsten beschäftigen und wie Er für uns wichtig wird oder bleibt. Heute soll es um den Aufbruch zum Nächsten gehen.

Lukas 10,25-37

Ein Mann, der sich im Gesetz des Mose besonders gut auskannte, stand eines Tages auf, um Jesus mit folgender Frage auf die Probe zu stellen:

"Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu bekommen?"

Jesus erwiderte: "Was steht darüber im Gesetz des Mose? Was liest du dort?"

Der Mann antwortete: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit deiner ganzen Kraft und all deinen Gedanken lieben. Und: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst."

"Richtig", bestätigte Jesus. "Tu das und du wirst leben!"

Der Mann wollte sich rechtfertigen; deshalb fragt er Jesus: "Und wer ist mein Nächster?"

Jesus antwortete: "Ein Mann befand sich auf der Straße von Jerusalem nach Jericho, als er von Räubern überfallen wurde. Sie raubten ihm seine Kleider und sein Geld, verprügelten ihn und ließen ihn halb tot am Straßenrand liegen. Zufällig kam ein jüdischer Priester vorbei. Doch als er den Mann dort liegen sah, wechselte er auf die andere Straßenseite und ging vorüber. Dann kam ein Tempeldiener und sah ihn ebenfalls dort liegen; doch auch er ging auf der anderen Straßenseite vorüber.

Schließlich näherte sich ein Samariter. Als er den Mann sah, empfand er tiefes Mitleid mit ihm. Er kniete sich neben ihn, behandelte seine Wunden mit Oel und Wein und verband sie. Dann hob er den Mann auf seinen eigenen Esel und brachte ihn zu einem Gasthaus, wo er ihn versorgte. Am nächsten Tag gab er dem Wirt zwei Denare und bat ihn, gut für den Mann zu sorgen. 'Sollte das Geld nicht ausreichen', sagte er, 'Dann werde ich dir des Rest bezahlen, wenn ich das nächste Mal herkomme.'

Wer von den dreien war nun deiner Meinung nach der Nächste für den Mann, der von Räubern überfallen wurde?", fragte Jesus.

Der Mann erwiderte: "Der, der Mitleid hatte und ihm half."

Jesus antwortete: "Ja. Nun geh und mach es genauso."

Jesus wird auf die Probe gestellt - eine Prüfungssituation. Vor Jahren habe ich einen evangelistischen Gesprächskreis geleitet im Rahmen der Aktion "Neu Anfangen". Dort kamen Menschen zusammen, die zwar am Glauben interessiert, aber in keiner Gemeinde zu Hause waren. Einige waren offen, neugierig und positiv, andere waren kritisch. Die Kritiker testen - vor allem den Leiter! Mal hören, was der so für Antworten drauf hat! Oft kommen sie auch mit einer ganz festen Meinung, von der sie nicht abweichen wollen. Ich war noch jung im Glauben und hatte längst nicht auf alle Frage eine Antwort. Ich fühlte mich wie in einer mündlichen Prüfung - ein unangenehmes Gefühl. Zeitweise fühlte ich mich überfordert und hilflos. In solchen Momenten lernt man zu beten: "Hilfe, Herr, was soll ich bloß antworten?"

Hier nun wird Jesus geprüft, Seine Kompetenz, Sein Bibelwissen. Und es ist kein Fischer und kein Bauer, der Ihm diese Frage stellt, sondern jemand, der sich echt gut auskennt in der Schrift: ein Gesetzeslehrer, ein Theologe. Der Mann fragt nicht aus Neugier oder persönlicher Betroffenheit. Es ist sein religiöser Hochmut und er will Jesus aufs Glatteis führen.

Doch Jesus reagiert souverän. Keine Spur von Aufregung oder Unsicherheit. Jesus antwortet gelassen und durchschaut die Absicht des Schriftgelehrten, Er erkennt die Frage hinter der Frage. Der Typ ist bibelfest, der kennt sich aus, Er weiß die Antwort. Dem kann man nichts vormachen.

Jesus wirft den Ball zurück und fragt: "Was steht im Gesetz?" Und dann verlässt Er die Wissensebene, geht auf die persönliche Ebene und fragt: "Was liest du dort?" Jesus fordert den Mann heraus zu einem persönlichen Bekenntnis.

Der Mann spult seine Antwort ab und sagt, was ein frommer Jude mindestens zweimal pro Tag aufsagt: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit deiner ganzen Kraft und all deinen Gedanken lieben. Und: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst."

Und Jesus sagt: "Du hast richtig geantwortet."

Wow, zwei Bibelkenner sind sich einig!. Jedenfalls an diesem Punkt. Das kommt ja nicht so häufig vor. Sie stimmen überein, es gibt keinen Streitpunkt - zumindest in der Theorie. Aber jetzt wird es unbequem. Jesus geht noch weiter. Zuerst verlässt Er die Ebene des Wissens, fordert ein persönliches Bekenntnis und nun wird Er auch noch praktisch. Er sagt: "Tu das und du wirst leben!"

Autsch! Der Gesetzeslehrer findet sich plötzlich in einer anderen Rolle wieder. Er war es doch, der Jesus auf die Probe stellen wollte und nun sieht er sich selbst in Frage gestellt! Wie reagiert er? Für welchen Weg entscheidet er sich? Für den Weg der Ehrlichkeit oder wird er seine Fassade aufrechterhalten? Kennt er Jesus schon gut genug, um zu wissen, dass er bei Jesus trotz seiner Fehler und Schwächen bedingungslos angenommen ist?

Wie reagieren wir, wenn sie aufeinanderprallen, der Anspruch von Jesus an uns und unsere Defizite? Gottes Wort ist lebendig und will gelebt werden. Aber wir können es einfach nicht. Kennen wir Jesus gut genug, um ehrlich zu sein? Im Hauskreis können wir toll über die Bibel reden und mit unserem Wissen glänzen. Aber wie reagieren wir, wenn mal einer die peinliche Frage stellt: "Ja, und wie machst du das? Wie lebst du das?" Peinliche Betroffenheit oder eine ehrliche Antwort?

Der Mann hätte antworten können: "Ach, Jesus, ich weiß sehr gut, wie ich denken und handeln soll, aber es gelingt mir so wenig. Ich versage immer wieder darin, das Wort in die Tat umzusetzen." Der Gesetzeslehrer entscheidet sich gegen die Ehrlichkeit und für die Fassade. Er weicht aus. Er will sich rechtfertigen und fragt: "Und wer ist mein Nächster?"

Man kann diese Frage auch anders formulieren. Und einige Formulierungen sind mir sehr vertraut:

"Wie ist denn das heute zu verstehen?"

"Muss ich das wörtlich nehmen?"

"Muss ich mich um jeden kümmern oder gibt es Grenzen, gibt es Hintertüren?"

Der Mann will sich abgrenzen. Er will genau wissen, wem er helfen muss und wem nicht. Auch wir verlangen nach Grenzen. Auch wir fühlen uns sicherer, wenn wir eine Richtlinie haben, wenn wir Regeln haben, an die wir uns halten können. Aber Jesus macht mit Seinem Gleichnis vom barmherzigen Samariter ganz deutlich: Es gibt keine Grenzen, Barmherzigkeit hat keine Grenzen, Nächstenliebe hat keine Grenzen.

Wenn wir an der Frage hängenbleiben: Um wen muss ich mich kümmern? Dann führt uns das nur in eine Sackgasse. Jesus, mit Seiner wunderbaren seelsorgerlichen Art, bietet dem Gesetzeslehrer die großartige Chance an, das Evangelium kennenzulernen. Er will ihn hinausführen aus seiner Gesetzlichkeit, aus seiner Herzensenge und Er macht die Tür zum Herzen Gottes ganz weit auf. Jesus verändert die Perspektive.

Wen meint der Gesetzeslehrer, wenn er vom "Nächsten" spricht? Er meint das arme Opfer. Er meint den Mann, der zusammengeschlagen wurde. Er denkt, das sei sein Nächster.

Wen meint Jesus, wenn Er vom "Nächsten" spricht? Er meint den Samariter, den Helfer! Jesus denkt vom Opfer her. Da ist jemand, der Hilfe braucht und sich nach Hilfe umsieht.

Jesus fragt: "Wer war der Nächste?"

Der Lehrer antwortet: "Der, der Mitleid hatte und half."“

Er kriegt noch nicht mal das Wort "Samariter" über die Lippen, denn die Samariter waren den Juden verhasst.

Der Lehrer fragt: "Wen soll ich lieben?"

Jesus dreht die Frage um: "Wer soll lieben?"

Eigentlich hätte es jetzt aus dem Lehrer herausplatzen müssen: "Ich - ich soll lieben, ich soll helfen, ich soll barmherzig sein. Du meinst mich, Jesus!"

Hat er nicht. Wieder antwortet er ausweichend, wieder lässt er das Mitgefühl nicht an sich heran, wieder verschließt er sich vor Veränderung. Wieder zeigt er, dass ihn die Not nicht wirklich berührt, zeigt wie unbarmherzig er in Wirklichkeit ist. Und deshalb sagt Jesus zum Schluss: "Dann geh und handle genauso."

Sind wir bereit, uns in Frage stellen zu lassen? Erlauben wir es Jesus, unsere Herzensenge zu verändern? Dazu gehört die ehrliche Bestandsaufnahme und die Frage: "Wie barmherzig bin ich wirklich? Wie sehr geht mir die Notlage eines anderen Menschen zu Herzen? Bin ich überhaupt fähig, tiefes Mitgefühl zu empfinden? Kriege ich es überhaupt mit, wie es den Leuten in meinem Umfeld geht?"

Wenn wir den Punkt geklärt haben, wirklich ehrlich geklärt haben, dann kommt die nächste Frage: "Wie werde ich barmherziger? Wie werde ich fähig zu mehr Nächstenliebe?"

Es ist ein geistliches Prinzip, dass Gott nichts von uns fordert, was Er uns nicht vorher geschenkt hat. Und mit der Nächstenliebe ist es genauso. Das Thema: "Aufbruch zum Nächsten" hat zwei Teile. Heute möchte ich darüber sprechen, was Gott uns geschenkt hat und in zwei Wochen wird es dann ganz praktisch. Dann geht es darum, wie wir in der Nächstenliebe wachsen können.

Was hat Gott uns geschenkt? Wie hat er ein gesundes Fundament gelegt und damit die Voraussetzung geschaffen, die uns fähig macht, auszuleben was Er in Seinem Wort fordert? Ich möchte euch erzählen, wie Martin Luther das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ausgelegt hat:

Jesus selbst ist der barmherzige Samariter und zwar für alle Menschen zu allen Zeiten! Wir alle sind es, die unter die Räuber gefallen sind. Die Räuber, das sind die Sünde und die dämonischen Mächte. Wir alle wurden verwundet. Wir alle wurden ausgeraubt. Wir alle wurden geschlagen. Wir alle lagen hilflos am Straßenrand, dem sicheren Tod ausgeliefert. Priester und Levit kommen vorbei. Sie stehen symbolisch für das Gesetz, dass Gott den Menschen gegeben hat. Aber das Gesetz kann den Menschen nicht helfen, von ihrer Sünde freizukommen. Sie gehen vorbei und helfen nicht.

Dann kommt ein Fremder, im Gleichnis der Samariter. Es ist ein Mann, der Grenzen überschreitet, kulturelle und politische Grenzen. Jesus Christus hat eine Grenze überschritten. Er kam aus der unsichtbaren Welt Gottes, um als Mensch unter Menschen zu leben. Ein Fremder in unserer Welt. Er kam zu Seinem Volk, aber Er wurde abgelehnt und angefeindet. Jesus hat Seine Sicherheit im Himmel aufgegeben und sich damit in Gefahr gebracht. Der Samariter, der stehen blieb, um zu helfen, hat sich auch in Gefahr gebracht. Die Räuber hätten ja noch in der Nähe sein können, um ihn dann auch noch zu überfallen. Jesus ging ein Risiko ein, brachte sich in Lebensgefahr.

Jesus machte sich die Hände schmutzig. Blut mit Straßenstaub vermischt, das ist eine schmutzige Angelegenheit. Der Samariter säubert die Wunde mit Wein. Wein ist ein Symbol für das Blut Jesu. Sünden sind eine schmutzige Angelegenheit. Jesus hat die Sünden aller Menschen auf sich genommen. Sein Tod war der Preis für unsere Freiheit.

Dann gießt er Öl auf die Wunde. Öl ist ein Symbol für den Heiligen Geist, der uns von Gott geschenkt wurde, auch um Heilung zu erleben. Anschließend bringt der Samariter den Mann in ein Gasthaus. Das Gasthaus ist für Luther das Symbol für die Gemeinde. Die Geretteten werden in die Gemeinden gebracht, damit sie dort gepflegt werden können und wieder ganz gesund werden.

Wir sind es, die Hilfe brauchen. Und wer ist unser Nächster? Jesus Christus! Er hat alles getan, was das Gesetz Gottes fordert. Alles! Wenn uns das einmal aufgegangen ist, dann brauchen wir uns keine Sorgen mehr zu machen, wie wir ewiges Leben bekommen. Dann werden wir die Frage nicht mehr stellen: "Was muss ich tun?"

Das ist Gesetz. Das hat sich erledigt. Das ist Vergangenheit.

Dann können wird uns komplett an der Gnade freuen. Jesus hat alles getan. Er ist mein Nächster! Er hat mir das ewige Leben geschenkt. Ich bin wirklich frei, ich bin versöhnt mit Gott. Welch ein Geschenk! Was für eine Freude!

Wenn Jesus dann sagt: "Geh hin und handle genauso!", dann ist das keine Überforderung, sondern Er sagt einfach nur: "Gib weiter, was ich dir geschenkt habe". Und Jesus hat uns ja noch viel mehr geschenkt. Ist uns das bewusst? Wie gehen wir mit Seinen Geschenken um?

Ein weiteres Geschenkt ist die Möglichkeit zur Beichte: Jesus sagt: "Bekennt einander eure Sünden!"

Ist das für uns ein Geschenk oder eine Zumutung? Wann hast du das letzte Mal einem anderen Menschen deine Sünden bekannt und dir die Vergebung Gottes zusprechen lassen?

Oder das Geschenkt der Vergebung. Wir müssen unseren Ärger und unsere Verletzungen nicht mit uns herumtragen. Wer hat dir in der letzten Zeit auf die Füße getreten? Hast du ihm schon vergeben?

Stille Zeit - Geschenk oder Pflichterfüllung? Gott möchte Zeit mit uns verbringen, weil Er uns liebt und sich danach sehnt, uns in Seiner Nähe zu haben. Ist uns das bewusst? Pflegen wir die Beziehung zu Ihm?

Anbetung - Geschenk oder Teil des Gottesdienstes? In der Anbetung können wir ausdrücken, wer Gott für uns ist und Ihm all unsere Dankbarkeit bringen. Dankbarkeit setzt Freude frei. Wenn wir uns auf all das Gute konzentrieren, was Gott in unserem Leben tut, verändert das unser Denken und Fühlen.

Alles Geschenke, alles Angebote - doch wenn wir sie nicht nutzen, werden wir auch nicht erleben, was Gnade und Freiheit bedeuten. Gib weiter, was du empfangen hast! Wenn du denkst, dass du nichts zu geben hast, dann mach dir neu bewusst, was Jesus dir geschenkt hat! Nächstenliebe wird dann zu einer ganz natürlichen Folge deines Glaubens.

Nun geh und mach es genauso!
Amen.

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