Aufbruch zum Nächsten, Teil 2
Anklopfen - Anhören - Anbieten
von Bruni Wolters, Vineyard-Harburg, April 2006
Lasst uns eine kleine Übung machen. Lasst uns die Augen schließen und überlegen, wer in der Reihe hinter uns sitzt. Wer in der letzten Reihe sitzt, darf sich fragen, wer heute die Technik macht! Seht ihr die Leute in Gedanken? Jetzt konzentriert euch auf einen von ihnen. Ist er zufrieden? Sieht er glücklich aus? Ist er bedrückt oder traurig? Wie habt ihr ihn wahrgenommen?
Vielen Dank, dass ihr so toll mitgemacht habt!
Heute kommen wir zum praktischen Teil des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter. Beim letzten Mal haben wir gehört, dass Jesus alle Voraussetzungen geschaffen hat, damit wir Menschen in Not begegnen können. Er hat uns gerettet, Er hat uns geheilt, Er hat uns ausgerüstet und beauftragt. Ich lese das Gleichnis noch einmal vor, lasse aber das Gespräch mit dem Schriftgelehrten weg, denn darüber hatte ich letztes Mal ausführlich gesprochen.
Lukas 10,30-37
"Ein Mann befand sich auf der Straße von Jerusalem nach Jericho, als er von Räubern überfallen wurde. Sie raubten ihm seine Kleider und sein Geld, verprügelten ihn und ließen ihn halb tot am Straßenrand liegen. Zufällig kam ein jüdischer Priester vorbei. Doch als er den Mann dort liegen sah, wechselte er auf die andere Straßenseite und ging vorüber. Dann kam ein Tempeldiener und sah ihn ebenfalls dort liegen; doch auch er ging auf der anderen Straßenseite vorüber.
Schließlich näherte sich ein Samariter. Als er den Mann sah, empfand er tiefes Mitleid mit ihm. Er kniete sich neben ihn, behandelte seine Wunden mit Öl und Wein und verband sie. Dann hob er den Mann auf seinen eigenen Esel und brachte ihn zu einem Gasthaus, wo er ihn versorgte. Am nächsten Tag gab er dem Wirt zwei Denare und bat ihn, gut für den Mann zu sorgen. 'Sollte das Geld nicht ausreichen', sagte er, 'dann werde ich dir den Rest bezahlen, wenn ich das nächste Mal herkomme.'
Wer von den dreien war nun deiner Meinung nach der Nächste für den Mann, der von Räubern überfallen wurde?", fragte Jesus.
Der Mann erwiderte: "Der, der Mitleid hatte und ihm half."
Jesus antwortete: "Ja. Nun geh und mach es genauso."
Hier ist die Not ganz offensichtlich. Wir müssen nicht lange diskutieren, ob dieser Mensch Hilfe braucht. Die Lage ist klar. Wenn wir Zeuge eines Verkehrsunfalls werden und es gibt Verletzte, dann ist die Lage auch klar. Dann müssen wir nicht lange nachdenken. Wir sind dazu verpflichtet, erste Hilfe zu leisten und unterlassene Hilfeleistung wird in unserem Land sogar bestraft.
Den meisten Menschen, die heute auf einen barmherzigen Samariter warten, sieht man das auf den ersten Blick nicht an. Viele Menschen, die "liegen geblieben" sind, sehen gar nicht danach aus, als wenn sie jemanden brauchen würden. Und die Leute, die einfach weitergehen, sind auch nicht diejenigen, die ihre Hilfe verweigern oder keine Lust haben zu helfen. Die gibt es sicher auch, aber es ist bestimmt nicht die Mehrheit.
Die, die vorbeigehen, sind oft die, die gar nicht merken, dass sie gebraucht werden. Merke ich, wann ich gebraucht werde? Kann ich genau hinsehen, genau hinhören? Habe ich es jemals gekonnt? Wir haben gerade eine Wahrnehmungsübung gemacht. Ich möchte jetzt nicht abfragen, wer genau benennen konnte, welche Leute hinter ihm sitzen und wie sie sich fühlen. Diese Übung dürft ihr ganz persönlich für euch auswerten und ich hoffe, dass jeder etwas über sich gelernt hat. Und vielleicht merkt der eine oder andere, dass seine Wahrnehmungsfähigkeit ausbaufähig ist.
Es gibt einen Schlüsselsatz in diesem Gleichnis: "Als er den Mann sah, empfand er tiefes Mitleid mit ihm".
Die Not des Mannes berührte den Samariter. Er sah genau hin, er sah die Not und die Not ließ ihn nicht kalt, sondern berührte sein Herz. Und seine innere Betroffenheit trieb ihn zum Handeln.
Jesus verändert die Blickrichtung des Schriftgelehrten, der von sich selbst ausgeht und Fragen stellt:
"Wer ist mein Nächster? Wem muss ich helfen?", und versucht ihn dazu zu bewegen, sich in das Opfer hineinzuversetzen, vom Opfer aus zu denken und zu fragen: "Wer wird mit helfen? Wer wird mein Nächster?"
Wenn wir über die ganz praktische Frage nachdenken: "Wie kann ich das umsetzen, was Jesus fordert", dann müssen wir genauso vorgehen. Als Erstes sollten wir aufhören, uns selbst zu reflektieren:
Habe ich genug Liebe?
Bin ich barmherzig genug?
Bin ich kompetent?
Habe ich genug Zeit?
Wenn wir uns auf diese Fragen konzentrieren, werden wir leicht zu dem Schluss kommen:
Ich kann das gar nicht.
Ich fühle mich so hilflos.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
Ich weiß nicht, wie ich helfen soll. Ich kann das nicht.
Jesus möchte unsere Blickrichtung verändern. Weg von uns selbst - hin zum anderen. Und wir nehmen bei Jesus Nachhilfeunterricht. Er war der perfekte barmherzige Samariter. Wir gucken uns ab, wie Er es gemacht hat. Die Evangelien berichten von zahlreichen Begegnungen, die Jesus mit kranken oder notleidenden Menschen hatte. Seine Art, mit Menschen umzugehen, möchte ich beschreiben mit: anklopfen, anhören und anbieten.
1. Anklopfen
Jesus sagt: "Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hört und die Tür öffnet, dann werde ich eintreten".
Jesus fällt nicht mit der Tür ins Haus. Jesus tritt die Tür nicht ein. Jesus klopft an und wartet auf unsere Reaktion.
Ich möchte euch an einem Beispiel zeigen, wie es nicht sein sollte. Wie ist es, wenn wir jemandem die Tür eintreten? Ich sehe Gerd im Gottesdienst und denke: "Der sieht heute aber gar nicht gut aus." Ich gehe auf ihn zu und sage: "Gerd, du siehst heute echt schlecht aus. Ich weiß genau, was mit dir los ist und was du jetzt brauchst. Ich werde für dich beten und gleich wird es dir viel besser gehen."
Ich habe ihn regelrecht überfahren und Gerd hatte gar keine Möglichkeit, zu reagieren! Wie wird er sich jetzt wohl fühlen? Wie jemand, der unter seiner Haustür liegt und dann hopse ich auch noch auf der Tür herum und frage: "Na, geht's dir schon besser?"
Jesus klopft an. Wie macht Er das? Indem Er die Leute fragt: "Was fehlt dir? Wie kann ich dir helfen? Was kann ich für dich tun?" Das macht Er sogar bei einem Blinden, wo es doch gar keinen Zweifel darüber gibt, was ihm fehlt. Jesus klopft an. Jesus fragt.
Wie hätte ich es in meinem Beispiel von gerade besser machen können?
Ich hätte fragen können: "Gerd, wie geht es dir?"
Dann sagt er vielleicht: "Ganz gut."
Dann weiß ich: er will nicht drüber reden oder er will nicht mit mir drüber reden.
Ich habe angeklopft und er hat die Tür nicht aufgemacht. Das ist in Ordnung und ich lasse ihn in Ruhe. Er hat die Freiheit und die werde ich ihm nicht nehmen.
Er kann aber auch sagen: "Es geht mir heute echt nicht gut."
Dann frage ich: "Magst du darüber reden?"
Wenn er dann erzählt, sind wir beim zweiten Punkt: Anhören
2. Anhören
Auch hier möchte ich mit einem Negativbeispiel beginnen. Vor kurzer Zeit traf ich eine Bekannte beim Einkaufen. Wir kamen ins Gespräch und standen vielleicht eine Viertelstunde zusammen. In dieser Zeit redete sie ununterbrochen. Zwischendurch stellte sie mal die Frage: Wie geht es dir eigentlich? Ich konnte kaum darauf antworten. Schnell fand sie ein Stichwort, wo sie mich unterbrechen und einhaken konnte und redete weiter.
Sie war so voll mit ihren eigenen Dingen, dass es nur so aus ihr heraussprudelte. Für mich war kein Platz in ihren Gedanken. Als wir uns verabschiedeten und ich nach Hause fuhr, war ich richtig traurig. Ich fühlte mich leer und benutzt.
Ich habe in der letzten Zeit mal bewusst darauf geachtet, wie viele Gespräche in einer ähnlichen Art und Weise ablaufen und ich bin zu der Erkenntnis gekommen, dass viele Leute nicht gut zuhören können. Sie sind so sehr mit sich selbst beschäftigt, mit ihren eigenen Gedanken und Ideen und Problemen und Erlebnissen. Da ist einfach kein Platz für andere.
Auf der anderen Seite ist es ein Merkmal unserer Zeit, dass die Menschen immer beziehungsunfähiger werden. Sie leben isoliert, sie fühlen sich einsam, sie sind nicht fähig, tragfähige Freundschaften einzugehen und zu pflegen. Sie fühlen sich oft falsch verstanden und übergangen. Und ihre Isolation ist ihnen ein großes Rätsel.
Es gibt eine Fähigkeit, die für den Aufbau vertrauter Beziehungen am wichtigsten ist und das ist das Zuhören. Gute Fragen stellen, verständnisvoll sein, nicht unterbrechen, auf Andeutungen eingehen - das sind wichtige Kommunikationsmittel und sie vermitteln dem anderen, dass er wichtig ist. Wer ständig redet, zeigt dem anderen damit, dass es hier nur einen gibt, der wichtig ist, nämlich er selbst.
Jesus war ein großartiger Lehrer, aber gleichzeitig verbrachte Er viel Zeit damit, den Menschen zuzuhören. Und Er hörte Leuten zu, mit denen niemand etwas zu tun haben wollte. Er stellte unglaublich gute Fragen. Er ließ die Leute ausreden. Und Er fing erst an zu lehren, wenn Er erkannt hatte, was die Menschen wirklich beschäftigte.
3. Anbieten
Nehmen wir einmal an, es ist tatsächlich zu einem Gespräch gekommen. Ein anderer hat uns sein Herz ausgeschüttet. Sein ganzes Elend liegt ausgebreitet vor uns. Was nun? Wir ahnen etwas von dem Schmerz, den der andere mit sich trägt. Es fängt vielleicht schon an, auch bei uns weh zu tun. Was machen wir jetzt?
Jetzt passiert häufig ein großer Fehler. Wir unternehmen alles, damit es dem anderen möglichst schnell wieder besser geht. Wir wollen die Situation verbessern und zwar sofort. Das ist allzu verständlich und allzu menschlich und oft so wirkungslos.
Wir suchen nach den "richtigen" Worten.
Wir überschütten den anderen mit wohlgemeinten Ratschlägen, die alle eins gemeinsam haben - sie sind ziemlich oberflächlich.
Wir entwerfen ganz schnell einen Plan und wollen den anderen zum Handeln treiben.
Lasst uns in das Gleichnis hineingehen. Die schnelle Lösung ist vergleichbar mit einem Samariter, der sich den blutenden Mann ansieht und sagt: "Das ist ja ekelhaft, das ist ja furchtbar, da kann ich gar nicht hinsehen. Hier hast du ein paar Pflaster und Vitamintabletten." Und dann geht er ganz schnell weiter.
Es ist schon entlarvend. Wir geben Ratschläge und suchen nach schnellen Lösungen, weil wir es nicht mit ansehen könne, wenn jemand leidet. Aber was hat der Samariter gemacht? Er hat die Wunden versorgt und dann hat er den Mann auf seinen Esel gesetzt und ihn zu einem Gasthaus gebracht. Er ist zu Fuß gegangen. Das hat gedauert - vielleicht sogar Stunden! Der Mann auf dem Esel wird Schmerzen gehabt haben, er hat gejammert und gestöhnt. Der Samariter hat es ausgehalten. Er ist bei ihm geblieben. Echte Liebe, echte Nächstenliebe zeigt sich, wenn wir den Schmerz sehen und nicht weglaufen, sondern bleiben und aushalten.
Die Trostpflästerchen, die wir so gern verteilen, damit es schnell wieder besser wird, haben noch eine gefährliche Nebenwirkung. Sie lenken von dem ab, was Gott im Leben dieses Menschen tun möchte. Gottes größter Wunsch für uns ist, dass wir Ihn immer besser kennenlernen, dass wir Ihm immer mehr vertrauen, dass wir uns an Seiner Nähe freuen und dass wir Seinen Befehlen gehorchen. Wie sorgt Er dafür, dass wir dies lernen? Er führt uns in Situationen, wo wir uns entscheiden müssen, ob wir Ihm ganz und gar vertrauen oder nach Strohhalmen greifen.
Da ist jemand in Not, schon über Wochen. Und es sieht so aus, als würde Gott nicht eingreifen. Auf jeden Fall verändert sich an der Situation nichts. Dann werden wir mürbe, denken Gott hätte uns vergessen und entscheiden uns, selbst für uns zu sorgen, statt zu warten. Wir suchen uns andere Tröster, gehen einkaufen, arbeiten, essen oder trinken, spielen, schauen fern usw. Jeder hat da seine eigenen Methoden.
Wir wissen genau, dass diese Dinge nicht wirklich helfen und trotzdem trinken wir "vergiftetes Wasser", statt auf Gott zu warten und Sein gesundes, lebendiges Wasser zu trinken.
Es fällt uns schwer, auf Gottes Handeln zu warten. Es fällt uns schwer, schwierige Situationen auszuhalten. Ein Mensch, der bereit ist, mit uns zu warten, mit uns auszuhalten und uns davon abhält "vergiftetes Wasser" zu trinken, ist ein wirklicher Segen und eine große Unterstützung.
Ein solcher Mensch braucht nicht nur die Fähigkeit anzuklopfen und anzuhören, er braucht auch die Fähigkeit, auf Gott zu hören, um dann das Richtige anzubieten.
Anbieten. Was anbieten? Dem anderen helfen, in seiner Beziehung zu Gott zu wachsen. Die kleinen Trostpflästerchen identifizieren und ihm abraten. Mut machen, nur auf Gott zu vertrauen. Ermutigen, Gottes Nähe zu suchen. Erklären, dass wirkliche Hilfe, echter Trost nur bei Gott zu kriegen ist. Den anderen ermutigen aufzugeben, was zwischen ihm und Gott steht.
Und noch eine wichtige Fähigkeit erkenne ich beim Samariter. Er kann sich abgrenzen. Er bringt den Mann in ein Gasthaus und zieht am nächsten Tag weiter. Er bleibt nicht so lange vor Ort, bis der Kranke wieder ganz gesund ist. Er vermittelt Hilfe und dann geht er.
Wir dürfen auf unsere eigenen Begrenzungen achten. Wir müssen es sogar, wenn wir als Helfender gesund bleiben wollen. Wenn wir merken, dass wir mit unseren Fähigkeiten oder auch mit unserer Kraft an Grenzen stoßen, dann dürfen wir weiter vermitteln. Nicht jeder Christ, der Nächstenliebe praktizieren will, muss ein Medizinstudium absolvieren oder eine Seelsorgeausbildung machen oder bis zur Erschöpfung zur Verfügung stehen. Aber wir alle kennen gute Ärzte und Seelsorger und dort können wir die Leute hinschicken. Oder wenn jemand Hilfe in finanziellen Dingen braucht, dann kenne ich einen guten Finanzberater und schicke ihn zu Olaf. Hilfe anbieten und eventuell weitervermitteln - das schützt uns vor Überforderung.
Ich kann nicht für alle Menschen ein Nächster sein. Das geht überhaupt nicht. Ich bin nicht für alles Leid auf dieser Welt verantwortlich und muss etwas dagegen tun. Ich kann immer nur für einen Menschen zur Zeit ein Nächster werden. Bei einem schweren Verkehrsunfall mit vielen Verletzten kann ich mich auch nur um einen zur Zeit kümmern. Ein Hilfsbedürftiger zur Zeit, auch das schützt mich vor Überforderung. Ich darf darauf vertrauen, dass Gott mir Menschen über den Weg schickt. Das einzige, was ich tun muss, ist, sie wahrzunehmen und entsprechend zu reagieren.
Eigentlich ist es doch ganz einfach, ein Nächster zu sein! Anklopfen - anhören - anbieten!
Wie geht es dir? Was brauchst du? Wie kann ich dir helfen?
Was brauchen wir am meisten, um diese drei Dinge umzusetzen?
Selbstbeherrschung. Anklopfen, statt mit der Tür ins Haus zu fallen. Anhören, statt zu reden und anbieten, statt mit Ratschlägen zu erschlagen. Selbstbeherrschung ist eine Frucht des Geistes, d.h. der Heilige Geist ist schon ganz aktiv. Geben wir Ihm doch ganz bewusst den Raum, uns zu verändern. Der Blick auf den anderen, der Hilfe braucht, verändert unser Denken, unser Fühlen und unsere Wahrnehmung. Auf diese Weise werden wir immer mehr zu einem Nächsten, der sich nicht hilflos oder überfordert fühlt.
Amen.