Warum Paulus den Römern schrieb
Von Dr. Juergen Buehler, leitender Direktor der
Internationalen Christlichen Botschaft Jerusalem
, 22. April 2010

Im Zentrum seines Briefes an die Gemeinde in Rom widmet der Apostel Paulus ganze drei Kapitel der Beziehung zwischen Israel und den Heidenchristen. Doch seine Lehre geht weit über die Kapitel 9 bis 11 hinaus, sie lässt sich im gesamten Römerbrief finden.

Gleich in Kapitel 1, Vers 16 verkündet Paulus, dass das Evangelium "den Juden zuerst und auch den Griechen" gilt. In Kapitel 2 spricht er die Frage der jüdischen Identität und den Gewinn durch die Beschneidung an. Dann stellt Paulus im 3. Kapitel gleich zweimal die Frage, ob es irgendeinen Vorteil darin gäbe, jüdisch zu bleiben, was er bejaht. Kapitel 4 erklärt, wie Abraham – der erste hebräische Patriarch – zur Gerechtigkeit gelangt. Später behandelt Paulus in Kapitel 14 die jüdischen Speisevorschriften und in Kapitel 15 erklärt er die Beziehung Israel-Gemeinde gemäß alttestamentlicher Prophetien und die christliche Verantwortung gegenüber Israel. In Kapitel 16 schließt Paulus seinen Brief dann im Erstaunen über das lang verborgene Geheimnis des Evangeliums, das allen Heidenchristen bekanntgemacht wurde, was zu ihrem Gehorsam im Glauben führte.

Israel ist daher das Thema, das in seiner gesamten Botschaft an die römischen Gläubigen durchkommt, mehr als in irgendeinem seiner Briefe an die klein-asiatischen Gemeinden. Das wirft die Frage auf: Warum schrieb Paulus der römischen Gemeinde vermehrt über dieses Thema? Der Grund lässt sich in einem oft übersehenen Vers erkennen: "Grüßt Priszilla und Aquila, die mit mir zusammen Jesus Christus dienen" (Römer 16,3).

Die Vertreibung aus Rom
Priszilla und Aquila waren über viele Jahre Paulus' Mitarbeiter. In der Apostelgeschichte begegnen wir diesem hingegebenen Ehepaar zum ersten Mal, als Paulus im griechischen Korinth ankommt.

“Bald darauf verließ Paulus Athen und reiste nach Korinth. Dort lernte er den Juden Aquila kennen, der aus der Provinz Pontus stammte. Er war vor kurzem mit seiner Frau Priszilla aus Italien nach Korinth übergesiedelt, weil Kaiser Klaudius alle Juden aus Rom ausgewiesen hatte” (Apostelgeschichte 18,1-2).

Das Ehepaar half Paulus bei der Gründung der Gemeinde in Korinth und siedelte dann zusammen mit ihm nach Ephesus, wo sie zusammen mit Paulus aktiv an Gemeindegründungen beteiligt waren. So wie er, waren auch sie als Juden Nachfolger Jesu. In der Apostelgeschichte heißt es, dass sie gezwungen waren, Rom zu verlassen, weil Kaiser Klaudius alle Juden aus Rom ausgewiesen hatte.

Der römische Historiker Suetonius bestätigt diesen Vorfall und der Historiker der Urgemeinde Orosius gibt als Zeitpunkt das Jahr 49 n.Chr. an. Andere geben sogar ein noch früheres Jahr an, nämlich 41 n.Chr. Diese Vertreibung war kein Einzelfall. Nur einige Jahrzehnte davor hatte Tiberius alle Juden von Rom auf die Insel Sardinien vertrieben.

Suetonius erklärt die Vertreibung mit “Unruhen und Aufständen unter den Juden durch die Aufhetzung des Chrestus.” Die meisten Kirchenhistoriker sind sich heute darin einig, dass sich das auf Christus bezieht. Christen wurden oftmals auch “Chrestianoi” genannt. Anscheinend hatte es unter den jüdischen Bewohnern Roms einen internen Streit wegen der messianischen Ansprüche Jesu gegeben, so wie es in Jerusalem (Apostelgeschichte 1,8), Antiochia (Apg. 15,50), Iconion (Apg. 14,1-7), Thessalonich und Beröa (Apg. 17) und anderswo der Fall gewesen war. Doch Klaudius war diesen Debatten gegenüber nicht sehr tolerant und vertrieb alle Juden.

Das betraf auch Priszilla und Aquila, die nach Korinth flohen, wo sie auf Paulus trafen. Über mehrere Jahre schlossen sie sich dem Team seines Dienstes an und übersiedelten mit ihm nach Ephesus. Doch als ein neuer Kaiser namens Nero in Rom an die Macht kam, erlaubte dieser den Juden im Jahr 54 n.Chr die Rückkehr. Auch Priszilla und Aquila gingen zurück; deshalb lässt Paulus sie am Ende seines Schreiben grüßen.

Die erste heidnische Gemeinde
Die Vertreibung der Juden aus Rom ist daher von zentraler Bedeutung im Verständnis von Paulus' Botschaft an die dortige Gemeinde. Die römische Gemeinde hatte schon existiert, lange bevor Paulus dorthin kam. Wie andere Gemeinden in jenen ersten Jahrzehnten der Bewegung, waren viele Gemeindemitglieder sowie zweifellos die meisten Lehrer Juden. Sie waren die am meisten erwähnten in der Heiligen Schrift, die in jener Zeit nur aus den Schriften des Alten Testaments bestand. So ist davon auszugehen, dass, als Klaudius die Juden aus Rom vertrieb, einschließlich derjenigen, die an Jesus glaubten, dies bedeutete, dass die römische Gemeinde höchstwahrscheinlich die erste war, die ausschließlich aus Heidenchristen bestand. Das muss eine große Herausforderung gewesen sein. Alle Lehrer und Ältesten, die sie jeden Schabbat unterwiesen hatten, waren fort!

Doch der Heilige Geist war dennoch mit ihnen und die Gläubigen aus den Nationen (die Heidenchristen) schafften es, eine zeitlang die römische Gemeinde intakt zu halten, sodass sie wuchs. Dies brachte ihnen wahrscheinlich ein neues Vertrauensgefühl, als sie entdeckten, dass die Gemeinde auch ohne die Juden funktionierte.

Spannungen durch die Rückkehr nach Rom
Doch dann erlaubte Kaiser Nero den Juden die Rückkehr, was zweifellos Spannungen hervorrief. Priszilla und Aquila waren unter denjenigen, die in ihre Heimatgemeinde zurückkehrten, wo sie sehr wahrscheinlich mit einem veränderten Verhalten ihnen und den anderen jüdischen Gläubigen gegenüber konfrontiert wurden.

Der historische Kontext deutet stark darauf hin, dass Paulus der Gemeinde in Rom schrieb, um die Spannungen zwischen den neuen heidnischen Leitern und den wiederkehrenden jüdischen Gemeindemitgliedern zu lösen und die Dinge in Ordnung zu bringen.

So zum Beispiel sehen wir Paulus, wie er die Heidenchristen streng ermahnt, ihre geistlichen Wurzeln im Judentum nicht zu vergessen. Das fängt schon bei seinem Eingangsgruß an, als er sie daran erinnert, dass Jesus “als Mensch aus Fleisch und Blut ein Nachkomme König Davids” ist. Doch rät er in Kapitel 2 den zurückkehrenden Juden vermehrt zur Leiterschaft durch beispielhaftes Vorleben als durch Worte. Und in Kapitel 14 spricht er die anscheinend aufgekommenen Fragen bezüglich der jüdischen Speisevorschriften an.

Dennoch, im Kern richtet sich dieses Schreiben an die Heidenchristen und die Notwendigkeit, ihre jüdischen Glaubenswurzeln zu respektieren. Paulus betont, dass das Wort, die Zusagen und Erlösungsabsichten Gottes Jahrhunderte zuvor mit dem jüdischen Volk begonnen hatten. Zusätzlich machte er deutlich, dass der Messias kein römischer Bürger war, sondern dass Er der königlichen Blutlinie Davids entstammte.

Die römische Gemeinde befand sich im Konflikt zwischen Juden und Heiden, wovon sie sich nie richtig erholt hat. Irgendwann begegnen wir Priszilla und Aquila wieder in Ephesus, wo Paulus sie in 2. Timotheus 4,19 erneut grüßen lässt. Indessen war die römische Gemeinde mehrere Jahrzehnte später zum Nährboden für die Ersatztheologie geworden, die den größte Häretiker der frühen Gemeinde, Marcion, aus dieser Gemeinschaft in Rom hervorbrachte.

Er lehrte dort von 137 bis 144 n.Chr. und behauptete, dass der Gott des Alten Testaments ein Gott der Rache und des Zorns sei, wohingegen der Gott des Neuen Testaments eine andere Gottheit sei, eine der Liebe und Gnade. Sogar einige alttestamentliche Bücher waren ihm zu "jüdisch".

Marcion wurde letztendlich von der Gemeinde ausgeschlossen, was darin endete, dass er eine große Menge Heidenchristen mit sich nahm. Der Einfluss seiner Irrlehren, die auf der Ablehnung unserer jüdischen Wurzeln basierten, weil Israel Jesus größtenteils abgelehnt hatte, ist bis zum heutigen Tage spürbar.

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